Lesenswertes zu Körper, Seele & Gesundheit
Seelische Gesundheit ist ein facettenreiches Feld und wir freuen uns, an dieser Stelle einige wertvolle Gedanken und Worte zu unterschiedlichen Themen aus dem Bereich der Psychologie mit Ihnen und Euch teilen zu können.
09.01.2025
Buddhistische Psychologie - Heilung durch Frieden
Von Christian Zehenter
Während die westliche Psychologie eher das Problem fokussiert, spricht ihr buddhistisches Pendant den heilen Kern im Menschen an. Östliche Meister sprechen von der Buddhanatur, die jedem Menschen innewohnt, als unzerstörbare innere Freiheit und Einheit. Dies ermöglicht, Herausforderungen zu umarmen und sich durch Annehmen und Loslassen schrittweise von ihnen zu emanzipieren.
Alle Probleme und Herausforderungen im Leben haben eines gemeinsam: Wir sind in Unruhe, Unfrieden, im Mangel – leiden und möchten Entspannung, Erfüllung und Frieden erfahren. Dies reicht vom alltäglichen Konflikt oder Bedürfnis bis zur schweren seelischen Krise. Die buddhistische Psychologie bietet hier einen liebevollen, integrativen Ansatz, der weit über das Individuum, seine Biografie und vermeintlichen Defizite hinausweist. Dabei handelt es sich nicht um eine definierte therapeutische oder wissenschaftliche Disziplin, sondern eine Sichtweise, die sich schrittweise ihren Weg in die Praxis bahnt.
Westliche Psychologie fokussiert Probleme und Individuum
Die westliche Psychologie stellt den Menschen als Individuum in den Mittelpunkt, ebenso wie einen „Mangelzustand“, den es zu beheben gilt. Kritiker sprechen daher von Reparaturpsychologie. Laut dieser haben Gene, Traumata oder krankhafte Prozesse unser emotionales und kognitives Gleichgewicht erschüttert. Dieser fehlerhafte Zustand muss dann (therapeutisch) analysiert, erklärt, integriert und überwunden werden, um – evtl. mit medikamentöser Hilfe – wieder richtig zu „funktionieren“. Im Zentrum stehen dabei meist ein bestimmtes Ursachenmodell (z. B. Trauma, Glaubenssätze, Verhaltensweisen), eine (Fehler-)Diagnose (z. B. Depression, Persönlichkeits- oder Angststörung, Burnout) und eine lehrbuchgerechte Lösung (z. B. Verhaltens- oder Suchttherapie, Antidepressiva, Beruhigungsmittel).
Statistik: Mehr als jeder Vierte von psychischer Krankheit betroffen
Wie gering jedoch die Erfolge dieser eher mechanistischen Herangehensweise sind, lassen die steigenden Zahlen psychischer Störungen erahnen: Rund 28 % der Bevölkerung sind pro Jahr von einer psychischen Krankheit betroffen. So leiden laut Angaben der Deutschen Depressionshilfe in Deutschland allein rund 5 Millionen Menschen unter Depressionen. In diesem Zuge stieg der Verbrauch von Antidepressiva in Deutschland von 2000 bis 2020 um rund 200 %. Die über 5 Millionen täglich verordneten Tagesdosen kosteten 2020 die Solidargemeinschaft allein 783 Millionen Euro. Rund 10 Millionen Menschen leiden außerdem in Deutschland unter Angststörungen, etwa 2 Millionen an einer Zwangserkrankung. Rund ein Drittel der Menschen lebt mit einer chronischen Abhängigkeit, insbesondere Alkohol (ca. 5 %), Tabak (ca. 25 %), Onlinesucht (ca. 7 %) und Medikamentensucht (Schmerzmittel: ca. 3 %).
Individualismus statt Spiritualität: Eine Sackgasse?
In diesem Zuge betrachtet die westliche Psychologie den Menschen fast losgelöst vom Kollektiv, vom Hier und Jetzt und auch vom Körper. Sie setzt stark auf Fehlerdiagnose, Heilung durch kognitives Erkennen und Entscheiden sowie medikamentöse Korrektur von (vermeintlichen) biochemischen Ungleichgewichten im Hirnstoffwechsel – und ignoriert nahezu die Person des Therapeuten. Wie Freud vor 100 Jahren setzt man somit weiterhin auf Analyse und Erkenntnis als Wegmarken der Heilung. Spiritualität, Gemeinschaft, Körperlichkeit, Beziehungsarbeit, Ausdruck (z. B. durch Bewegung, Stimme und Kunst), Musik, Sinnlichkeit, Spiel, Lachen, Arbeit mit dem Geist und körperliche Berührung (z. B. in Form einer Gruppenarbeit) sucht man in den meisten Psychotherapiepraxen vergebens. Hingegen wird mit geradezu wissenschaftlichem Eifer Ursachenforschung und Symptomkontrolle betrieben. Das Ich steht hierbei über allem und scheint aus seiner Umwelt und Herkunft seltsam herausgelöst zu sein. Eigentümliche Anteile – die Freud als
Es (Instinkthaftes), Ich (bewusster Anteil) und Über-Ich (elterliches Gewissen) beschrieb – scheinen hier irgendwie gegeneinander zu stehen.
Bereits C. G. Jung entdeckte das kollektive (Un-)Bewusste
Bereits C. G. Jung stellte den Menschen in den Verbund einer Gemeinschaft einschließlich ihres kollektiven Unbewussten. Denn wie sollte ein Mensch zufrieden, entspannt und frei sein in einer unzufriedenen, angespannten und unfreien Gemeinschaft? Wie sollte er überhaupt zu verstehen sein ohne andere Menschen, die Realität seines Alltags, seine Vorfahren, Lebensbedingungen, Gewohnheiten, Glaubenssätze, Umwelt und Weltsicht?
Ich als Erscheinung statt absolute Instanz
Somit stand das Ich nicht mehr allein. Schon lange vor C. G. Jung setzten spirituelle Lehrer den Menschen nicht nur in Bezug zu seiner Umwelt und Biografie, sondern zur Welt als solcher. Denn wie sollte etwas aus der Welt kommen, was nicht die Welt sei? Wie sollte ein Mensch, wenn er zuvor nie gewesen wäre, plötzlich aus dem Boden wachsen – und schließlich wieder dorthin verschwinden? Und wie könnte er getrennt von allem sein, wenn doch alles verbunden ist? Müsste das Gefühl des Individuellen, Absoluten, Getrennt- und Subjektseins nicht vielmehr eine Illusion sein, die man überwinden könnte? Könnten nicht Subjekt und Objekt, also Betrachter und Betrachtetes sich gegenseitig bedingen und daher eins sein?
Östliche Sicht: Karma und Einssein aller Dinge
Haben Wahrnehmungen und insbesondere Gefühle – von höchster Freude und tiefer Entspannung bis zu Todesangst und tiefster Trauer – tatsächlich die Absolutheit und Substanz, die wir ihnen zumessen? Oder sind sie – und alle anderen Eindrücke – vielleicht „leer“ und entspringen vor allem unserem eigenen Geist, sind also Geistesbewegungen statt objektive Wahrnehmung?
Nach der östlichen Sicht ist das, was uns im Leben widerfährt, nicht Glück oder Unglück/Fehler, sondern Karma – das sich ständig wandelnde Ergebnis unserer bisherigen Gedanken, Worte und Taten. Was auch geschieht: Es ist in Ordnung, wertvoll und notwendig. Denn es bedeutet weder Fehler noch Strafe für „schlechtes Benehmen“, sondern reguliert unser Leben und resultiert wesentlich aus unserem Handeln, Reden und unserer Sicht auf die Dinge. Somit lässt es sich auch beeinflussen. Dies schließt auch kollektives Karma ein, denn der Einzelne ist nicht von seinen Mitmenschen, Vorfahren und Bedingungen zu trennen. Dies bedeutet, auch Schmerzliches zutiefst anzunehmen, ihm in diesem Zuge aber seinen Schrecken zu nehmen, die Beweglichkeit darin zu erfahren und es als produktive Kraft in Mitgefühl und Lebensbewegung umzuwandeln. Dies folgt auch den vier Edlen Wahrheiten des Buddha als eine der wichtigsten Grundlagen der buddhistischen Lehre:
1. Es gibt Leid im Leben (z. B. Veränderung, Bedingtheit, Geburt, Krankheit, Tod).
2. Das Leid entsteht durch Ursachen, insbesondere Unwissenheit, Anhaftung (Begehren) und Abneigung.
3. Durch Erkennen des Geistes und Aufgeben des Begehrens kann das Leiden überwunden werden.
4. Dies geschieht auf dem Weg der Erleuchtung, der zu dauerhaftem Glück führt, insbesondere durch den achtfachen Pfad, bestehend aus: rechter Erkenntnis und Gesinnung, rechter Rede, rechtem Handeln und Leben, rechter Anstrengung, Achtsamkeit und Meditation. Hierdurch gelangen wir zu den „vier Unermesslichen“: bedingungslose Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut (Frieden).
Den Menschen als Erscheinung begreifen
So ungewohnt diese Sichtweise zunächst ist, so entlastend kann sie sich auswirken. Denn das Individuum ist damit nicht mehr auf sich selbst und sein Schicksal zurückgeworfen, wodurch es gegen widrige Bedingungen um sein Glück kämpfen müsste. Es kann sich hingegen in einem offenen System verorten, in dem nichts getrennt ist.
Der Mensch gleicht hierbei einer Wolke. Sie ist eine Erscheinung des Wassers, die sich ständig verwandelt. Sie wird weder geboren, noch stirbt sie oder hat eine getrennte Identität und Existenz. Auch die Welle ist als Erscheinung des Wassers nicht von diesem zu trennen. Sie ist selbst das Wasser, das tief ruhend darunterliegt und sie gleich einer Lichtspiegelung hervorbringt, in andere Wellen übergehen und an einem Ufer auslaufen lässt, ohne dass irgendetwas am Wasser deshalb verschwinden würde.
Ebenso ist der Mensch nur als ganz besondere und sich ständig wandelnde Konstellation von Bedingungen und Energielinien zu verstehen, darunter Familie, Vorfahren, Gemeinschaft und Lebensbedingungen. Er kann sich daher als mit allem verbunden erfahren statt als isoliertes Ich, dessen Illusion nur mit größter Anspannung und Anhaftung aufrechtzuerhalten wäre – und dies auch nur bis zur nächsten Krise oder Krankheit.
„Buddhanatur“ statt Dysfunktionalität in jedem Menschen
Die östlichen Meister und schließlich auch die buddhistische Psychologie sehen im Gegensatz zur westlichen Sicht im Menschen kein Mangelwesen, sondern im Kern eine Buddhanatur. „Buddha“ bezeichnet hierbei keine historische oder religiöse Figur, sondern den erleuchteten Geisteszustand, geprägt durch Liebe, Freiheit, Frieden, Gleichmut und zeitloses Gewahrsein. Dieser wohnt demnach in allen Menschen, ist allerdings oft durch Schleier wie Unwissenheit, Verlangen oder Abneigung (einschließlich Angst) verdeckt. Die gute Nachricht darin: In jedem Menschen wohnt trotz leidvoller Störgefühle ein von Grund auf gesunder, gütiger, vollkommener, weiser, freier und unzerstörbarer Geist, der mit allem in Verbindung steht.
Vom Ich ins Loslassen, Gewahrsein und Mitgefühl
Daher geht es in der buddhistischen Psychologie immer wieder um Loslassen – auch vom (als getrennt erlebten) Ich: „Ich brauche, fürchte, hoffe, möchte (nicht), glaube, schätze, verachte …“ Dies alles sind Stolpersteine auf dem Weg zu innerem Frieden. Denn immer ist es etwas Externes, von uns nicht wirklich Kontrollierbares, das unser Wohl sichern soll. Somit leben wir in banger Hoffnung auf günstige Umstände, die doch nie von Dauer sein werden. Wer den Menschen hingegen als Verbindungswesen begreift, erkennt: Er kann nur gemeinsam glücklich werden. Somit bestehen zentrale Schritte darin, anderen mit Mitgefühl zu begegnen und ihnen zu nützen. Wer einmal ausprobiert hat, welche Wirkung Wertschätzung, Lob, Anlächeln, Anteilnahme, Akzeptanz, liebevolle Begegnung und tatkräftige Unterstützung auf Menschen haben – wenn sie von Herzen kommen –,
weiß: Sie übertreffen jede Therapie und wirken zudem auf den Absender zurück.
Umgekehrt können Wut, Abneigung, suchthaftes Verlangen, Unachtsamkeit, Eifersucht, Gier und Neid Menschen und Beziehungen klein und eng machen – einschließlich demjenigen, von dem sie ausgehen.
Mitgefühl als Schlüssel: Alles ist verbunden
Somit liegt im Mitgefühl ein zentraler Schlüssel. Im Moment des Leidens sind wir nur sehr eingeschränkt dazu fähig. Doch sobald wir den Schmerz annehmen und ihn hierdurch zunehmend loslassen und feststellen, dass wir nicht unsere Gefühle und Erfahrungen (so auch nicht der Schmerz) sind, können wir ihn in Mitgefühl verwandeln – auch gegenüber all jenen, die Ähnliches erfahren. Somit stellen verletzende Erfahrungen und Krisen wichtige Wegmarken auf dem Weg zum Füreinander-da-Sein und zu innerer Freiheit dar. Der weltweit wirkende buddhistische Lehrer Jack Kornfield schreibt in seinem Buch „Das weise Herz. Die universellen Prinzipien der buddhistischen Psychologie“ dazu: „Ich möchte, dass wir die Kraft unseres Herzens begreifen, alles in sich aufzunehmen – Kummer, Einsamkeit, Scham, Begierde, Reue, Frustration, Glück und Frieden –, und
so tiefes Vertrauen in die Tatsache gewinnen, dass wir, egal wo wir sind und was uns begegnet, in der Lage sind, inmitten all dessen, was geschieht, frei zu sein.“ Über allem steht dabei das liebevolle Gewahrsein – bewusst und achtsam im Hier und Jetzt, Sowohl-als-Auch, Einssein – ohne zuzugreifen oder wegzuschieben, ganz in Frieden und innerer Freiheit.
Leid gehört zum Leben, aber nicht zur Identität
Zugleich gehört Leid zum Leben und ist kein Fehler oder Irrtum, keine Dysfunktion. Es entsteht aus dem natürlichen Verhaftetsein mit den Dingen. Menschen erleiden Verluste, Schmerzen, Krankheiten, sind fragil, vergänglich, oft einsam, werden nur selten wirklich gesehen, gewürdigt, wertgeschätzt, geschützt, unterstützt und anerkannt. Sie haben Hilflosigkeit und Gewalt, Missachtung, Verlust, Liebesentzug und Manipulation erfahren und wurden in ihrer Würde und ihrem Selbstwertgefühl verletzt. Zugleich sind sie ganz, heil, verbunden und mit einer unzerstörbaren, vollkommenen Buddhanatur beschenkt, die nicht wertet und unterscheidet, nicht trennt, zugreift oder abwehrt. Sie bedeutet bedingungsloses, mitfühlendes, achtsames Gewahrsein jenseits aller Erscheinungen und Dualität. Ist uns dies bewusst, identifizieren wir uns immer weniger mit leidbringenden Erfahrungen. Wir erleben sie als schmerzlich, verinnerlichen den Schmerz aber nicht mehr.
Pendeln zwischen Licht- und Teilchennatur des Geistes
Daraus ergibt sich ein Pendeln zwischen bedingter und unbedingter Welt: In der bedingten Welt sind wir Kinder, Eltern, Partner, Freunde, berufstätig, behaupten die Bedarfe und Grenzen von uns und unseren Anvertrauten, betrauern Einsamkeit und Verlust und sind beglückt über Sinnerfahrung, Verbindung und Selbstwirksamkeit. Man spricht von der Teilchennatur des Geistes. Dahinter liegt jedoch eine unbedingte Welt, in der alles Eins ist – Erleber, Erlebtes und Erleben – ungetrennt von allem. Hier ist alles bereits erfüllt und ein reines Land, es gibt nichts zu tun, wir sind bereits angekommen. Man spricht von der Lichtnatur des Geistes. Sie erfährt man z. B. in der Meditation. Sie
realisiert das Angekommensein, das Da-Sein und So-Sein im zeitlosen Gewahrsein. Da diese Voraussetzungen für alle Menschen gelten, arbeitet die buddhistische Psychologie mit einem universellen statt individuellen Ansatz. Sie blickt nicht analytisch auf den Einzelnen, sondern liebevoll und entspannt auf alle Menschen als an sich vollkommene Geist- und Verbindungswesen. Dieser zutiefst akzeptierende Ansatz steht modernen Bedrohungs- und Erlösungserzählungen aus Politik, Wissenschaft und Medien diametral gegenüber, die suggerieren, Menschen wären von schrecklichen Entwicklungen bedroht und müssten gegen diese kämpfen. Aus Sicht des Karmas und Einsseins der Dinge ist jeder Kampf ein Kampf gegen sich selbst. Dabei kehrt alles zu uns zurück, was wir in die Welt geben – ob Großzügigkeit, Mitgefühl und Nachsicht – oder Abneigung, Kontrolle,
Marschflugkörper und Panzer: Es wird uns widerfahren. Dies bedeutet keineswegs, interessenlos gegenüber allgemeinen Entwicklungen zu sein, im Gegenteil: Gerade durch das Bewusstsein des Verbundenseins steht das Bestreben im Mittelpunkt, dass alle Wesen glücklich sein und in Frieden und Freiheit leben mögen. Dies geschieht jedoch immer aus Mitgefühl, Entspannung und Güte und nie aus Wut, Angst und Erregung. Somit ist bei allen Gedanken, Taten und Worten die Motivation dahinter entscheidend. Auch eine gute Tat wäre vergeblich, wenn sie aus Störgefühlen wie Gier, Wut, Geltungssucht oder Abneigung geschieht.
Probleme umarmen statt bekämpfen
Erprobte Übungen für die eigene und therapeutische Praxis beschreiben unter anderem die Psychologen Tilmann Borghardt und Wolfgang Erhardt in ihrem Buch „Buddhistische Psychologie“, ebenso wie aus Praktizierendensicht Jack Kornfield in „Das weise Herz“. Die buddhistische Psychologie richtet sich hierbei an Angehörige aller Glaubensrichtungen und Weltanschauungen, missioniert nicht und erfordert keinerlei religiöse Rituale, Bekenntnisse, Studien oder gar einen Beitritt zu einer praktizierenden Gemeinschaft. Sie spricht zugleich das Bedürfnis nach Sinn und Spiritualität an und möchte Überzeugungen nicht festigen, sondern auflösen. Der vietnamesische Mönch und Zen-Meister Thich Nhat Hanh (1926–2022), neben dem Dalai Lama der wohl bedeutendste buddhistische Lehrer unserer Zeit, schrieb in seinem Buch „Die Heilkraft buddhistischer Psychologie“ dazu: „Unsere Anhaftung an Sichtweisen und Überzeugungen ist eines der größten Hindernisse für unser Glücklichsein.“
Im Fall einer Therapie ist der Therapeut hierbei keine anonyme Instanz, sondern tritt mit seiner Sicht, Biografie und Persönlichkeit in Erscheinung – und kann gerade hierdurch vermeiden, dass diese sich unbewusst mit der Therapie vermischen. Im Rahmen der buddhistischen Psychologie werden Probleme nicht bekämpft, sondern umarmt. Das Ich, seine (vermeintlichen) Bedrohungen und sein
Glück werden dabei nicht in den Mittelpunkt der Bemühungen gestellt, sondern in einen größeren Kontext eingeordnet und schrittweise losgelassen. Nicht das persönliche Glück, sondern das Glück aller Wesen steht im Fokus, nicht Behauptung, sondern Liebe, nicht Selbstgefühl, sondern Mitgefühl, nicht Erfolg, sondern Frieden. Wie sich zeigt, fördert dies ein gelungenes, zufriedenes Leben stärker und nachhaltiger als jede ichfokussierte Glücksstrategie. Jack Kornfield schreibt dazu: „Wenn wir uns von der leidenden Person verabschieden, die wir zu sein glauben, tragen wir unseren Segen überallhin.“
Arbeit mit dem Geist: Was ist das eigentlich?
Einen wesentlichen Bestandteil stellt dabei die Arbeit mit dem Geist dar. Dieser ist den meisten Menschen ebenso wenig bewusst wie dem Fisch das Wasser. So halten wir gewöhnlich unsere Geistesbewegungen und -gegenstände für eine äußere Realität. Nehmen wir etwas „wahr“, so sehen wir darin meist eher eine absolute Existenz als einen eigenen Eindruck. Blickt man jedoch genauer auf die Prozesse, stellt man fest, dass wir nur unsere eigenen Geistes-(Re-)Aktionen wahrnehmen, nämlich die Frequenzen, die ohnehin bereits in uns schwingen und von außen lediglich angesprochen werden. Beobachter und Beobachtetes bedingen sich demnach gegenseitig und sind nicht
voneinander getrennt. So erhält der Geist eine zentrale Bedeutung, man rückt stärker ab von scheinbar unverrückbaren Geschehnissen und Identitäten und blickt auf das eigene Erleben. Wichtige Hilfen sind dabei:
- Atmung, z. B. bewusstes und ruhiges Ausatmen tief in den Körper hinein (Thich Nhat Hanh: „Richtige Achtsamkeit bedeutet, zum Ein- und Ausatmen zurückzukehren.“)
- Meditation, z. B. Meditation des Mitgefühls, Atem-, Achtsamkeits-, Vipassana-, 16.-Karmapa-Meditation, Mantrensingen bis hin zur Königsdisziplin, der stillen Meditation
- Visualisierung, z. B. Verschmelzen oder Begegnung mit dem Buddha, Auflösung aller
Erscheinungen
- Körperlichkeit, Sinnlichkeit
- Vergegenwärtigung des Einsseins und der Vergänglichkeit aller Dinge
Über diese Elemente kann der Mensch in täglicher Praxis (z. B. Atemmeditation, Meditation des Mitgefühls) lernen, mit seinem Geist zu arbeiten, sich von der scheinbaren Absolutheit seiner Eindrücke, Ängste, Schmerzen und Bedürfnisse zu lösen und immer stärker in den inneren Frieden und das Einverständnis, Sowohl-als-Auch und Einssein zu gehen. Hierbei helfen auch Mantren, die durch häufige Wiederholung – klassisch sind 108 Wiederholungen entsprechend den 108 Perlen der Mala (Gebetskette) – eine tiefe Ruhe, Gleichförmigkeit, Entspannung und Verinnerlichung der Texte erzeugen. Dies können Mantren aus dem buddhistischen Kulturkreis wie „Om mani peme hung“, „Om ami dewa hri“ oder „Namu Myōhō Renge Kyō“ sein, aber auch Mantren in eigener Sprache wie „Es ist wie es ist“, „Mögen alle Wesen glücklich sein“, bis hin zu längeren Texten wie „Wir nehmen Zuflucht zu den Lamas, den Buddhas und ihren Lehren“ oder „Möge ich lernen, dem Entstehen und Vergehen der Dinge mit Gleichmut und innerer Ruhe zu begegnen, möge ich offen und ausgeglichen und friedvoll sein“ (Jack Kornfield).
Freiheit lernen und den Augenblick leben
Gefühle und Erfahrungen sind dann nicht mehr (vermeintlich) absolute harte Realität, sondern Räume und Impulse, zwischen denen wir uns bewegen, und Eindrücke, die wir greifen und loslassen können. So schrumpfen innere und äußere Konflikte in ihrer scheinbaren Dramatik und Bedeutung, während wir Freiheit und Gelassenheit gewinnen – und zugleich mehr Akzeptanz, wenn das Leben immer wieder schmerzliche Herausforderungen bereithält. Wir dürfen sie dann zunehmend als Wegweiser und Hilfen begreifen – das Recht auf Scheitern eingeschlossen. Je überpersönlicher wir die Dinge erleben, desto besser können wir mit ihnen Frieden schließen. In den Worten Thich Nhat
Hanhs: „Wenn wir in jeden Augenblick tief eintauchen, werden unser Bedauern und unsere Sorgen verschwinden, und wir werden das Leben mit all seinen Wundern entdecken. (…) So überwinden wir unsere Zerstreutheit und verweilen friedvoll im gegenwärtigen Moment, und dies ist der einzige Moment, in dem wir lebendig sind.“
Admin - 18:37:18 | Kommentar hinzufügen